Die Zeit des Leugnens, Vertuschens und Verharmlosens ist vorbei

Kommentar zum Prozess am Landgericht Wuppertal zum Prozess wegen des vierfachen Mordes an Einwanderern in Solingen 2024

Wie beängstigend muss es für die Überlebenden sein, dem Prozess vor dem Landgericht Wuppertal um den Brandanschlag vom März 2024 in Solingen zu folgen? Dabei kamen vier Mitglieder einer bulgarisch-türkischen Familie ums Leben, 21 Menschen wurden teils schwer verletzt und nun stellt sich heraus, dass Polizei und Staatsanwaltschaft ungeprüft die Version des mutmaßlichen Täters über sein Motiv übernommen und Beweismittel, die auf Rassismus deuten, unterdrückt haben.

Obwohl seine Beamten bei der Durchsuchung der Wohnung des mutmaßlichen Brandstifters zahlreiche Nazidevotionalien und rassistisches Propagandamaterial fanden und fotografierten, erklärte der Wuppertaler Polizeipräsident unmittelbar nach der Verhaftung des mutmaßlichen Täters, es gäbe kein politisches Motiv für den Mordanschlag. Das war offenbar gelogen. Denn nun kommt nach und nach ans Licht, dass die Ermittler, zahlreiche Beweismittel, die auf Rassismus als Motiv für den vierfachen Mord und mehrfachen Mordversuch deuten, nicht zur Akte genommen haben und entsprechenden Spuren nicht nachgegangen sind.

Nur dem beharrlichen Drängen der Vertreterin der Nebenkläger*innen Seda Başay-Yıldız und ihrer Anzeige gegen die Wuppertaler Polizei wegen Unterdrückung eines Beweismittels ist es zu verdanken, dass Polizei und Justiz in NRW nach 14 Verhandlungstagen gezwungen sind, die dem Gericht vorenthaltenen Beweismittel endlich zu untersuchen und neu zu bewerten. Doch das Strafgesetzbuch sieht vor, dass nicht zu bestrafen ist, „wer freiwillig das Beweismittel dem Gericht, der Staatsanwaltschaft (…)  zu einer Zeit vorlegt, da es bei der zu treffenden Entscheidung (…) noch berücksichtigt werden kann“. Mit anderen Worten, dem Wuppertaler Polizeipräsidenten drohen keine rechtlichen Konsequenzen für sein rechtswidriges Handeln. So sah die Staatsanwaltschaft Wuppertal auch keinen Anfangsverdacht für strafbares Handeln und lehnte die Aufnahme von Ermittlungen gegen den Polizeipräsidenten Markus Röhr ab. Doch damit sind die Verantwortlichen noch nicht aus dem Schneider.

Auch für die Vertreter*innen der Überlebenden des Anschlags ist es offensichtlich kaum erträglich, was sie bei dem Prozess erleben müssen. „Für uns ist es ein Skandal, wie dieses Verfahren von den Ermittlungsbehörden bislang geführt wurde und dem Gericht und unseren Mandanten wichtige Informationen und Aktenbestandteile vorenthalten wurden“, empörten sich Seda Basay-Yildiz und vier weitere Vertreter der Nebenklage nach dem letzten Verhandlungstag. Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer hatte am 14. Verhandlungstag ganz nebenbei bemerkt, dass ein Vermerk der Polizei aufgetaucht sei, wonach der Brandanschlag vom 25.03.2024 bereits im April 2024 als „rechts“ motivierte Tat eingestuft wurde. Der entsprechende Vermerk sei dem Gericht aber erst jetzt zur Akte gereicht worden. Sie monieren darüber hinaus, dass ein Bericht über eine erfolgte Durchsuchung parallel zur Gerichtsverhandlung rekonstruiert werden musste, im laufenden Gerichtsverfahren nun zeitaufwendig eine Datenauswertung stattfindet, nachdem erst die Nebenklagevertreterin Basay-Yildiz rassistische Bilder mit Nazipropaganda auf dem E-Mail-Account des Angeklagten gefunden hatte.

Die Nebenklage fordert nun, sämtliche relevanten Informationen unverzüglich und vollständig dem Gericht und den Opfern zur Verfügung zu stellen. Nur so könne eine umfassende Bewertung der Tatmotive erfolgen. Die Ermittlungsbehörden erweckten den fatalen Eindruck, dass eine vollständige Aufklärung nicht gewollt sei. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Generalbundesanwaltschaft aufgrund der Bedeutung des Falls nicht frühzeitig an sich gezogen habe und der Beschuldigte nicht von einem Staatsschutzsenat beim Oberlandesgericht angeklagt wurde, sagt Basay-Yildiz.

Bereits der NSU-Komplex hatte das ganze Ausmaß von alltäglichem und institutionellem Rassismus und rechtem Terror deutlich gemacht. Doch Polizei und Justiz haben daraus bis heute offenbar nichts gelernt. Im Gegenteil, ein Blick in die Chroniken der unabhängigen Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt offenbart nicht nur die tägliche Dimension rechter Gewalt (2024 wurden jeden Tag mindestens 2 Menschen Opfer rechter, rassistischer, antisemitischer oder anderer menschenfeindlich motivierter Gewalt in NRW), sondern ein Besorgnis erregendes Maß an beharrlichem Leugnen, Vertuschen und Verharmlosen politisch rechter, rassistischer und antisemitischer Tatmotive durch Polizei und Justiz sowie eine mangelnde Bereitschaft, die ganz normalen Instrumente der Kriminalistik und Strafverfolgung auch bei rechten Gewalttätern adäquat anzuwenden.

Ganz anders reagierten die Sicherheitsbehörden im Fall des Messerangriffs im August 2024 in Solingen, bei dem drei Menschen starben und acht weitere zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Der Tatverdächtige war kein Weißer, hatte Ende 2022 in Deutschland Asyl beantragt, sollte im Jahr zuvor nach Bulgarien abgeschoben werden, doch die Abschiebung misslang. Friedrich Merz sah seine Chance im Wahlkampf gekommen, verschärfte seine rassistische Rhetorik und forderte, keine Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan mehr aufzunehmen, in beide Länder wieder abzuschieben und Schutzsuchenden, die in ihr Herkunftsland reisen umgehend jeden Aufenthaltsstatus zu entziehen. Die Ampel reagierte prompt und startete wenig später den ersten Flug mit Abschiebehäftlingen nach Kabul seit dem Abzug der westlichen Alliierten aus Afghanistan. Anfang Januar vollzog Merz schließlich den gravierendsten Tabubruch und probte die Zusammenarbeit mit der AFD, deren Programm „Remigration“ ist. Zwar wurde der Gesetzentwurf zur Aussetzung des Familiennachzugs für Geflüchtete mit eingeschränktem Schutzstatus und zur Erweiterung der Abschiebebefugnisse der Bundespolizei mit knapper Mehrheit im Bundestag abgelehnt, doch der entfesselte rassistische Diskurs bescherte den rechten Parteien – CDU, CSU, AfD – mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen bei der Bundestagswahl und verhalf Merz ins Kanzleramt.

Auch wenn der Vertreter der Staatsanwalt Wuppertal die drängende Frage im Prozess, ob es sich um einen rassistischen Anschlag gehandelt hat, weiterhin als "Meinung" der Nebenklagevertreterin abkanzelt, weil ihm kein Argument zu blöd ist, scheint hinter den Kulissen der NRW-Justiz Betriebsamkeit zu herrschen. Die Polizei in Hagen hat – „aus Neutralitätsgründen“ - die Untersuchung der bisher ignorierten Beweismittel übernommen und das LKA NRW Unterstützung dafür zugesichert, erklärte der Vorsitzende des Schwurgerichts am 14. Verhandlungstag und beeilte sich, die Sitzung schnell zu beenden, um sie in knapp drei Wochen fortsetzen zu können.

Es ist fraglich, ob es tatsächlich zu einer Neubewertung der unterdrückten Beweismittel kommt. Doch die Zeit, in der Polizei und Justiz Rassismus als Motiv für Morde an Einwanderern und POC leugnen und die Opfer zu Tätern machen konnten, ohne dass jemand nachfragt und die Deutung des Geschehens allein der Polizei überlassen bleibt, ist vorbei. Zwar hat sich das politische Establishment nach der Bundestagswahl weit rechts positioniert, als befände es sich auf einem anderen Planeten, weitab von der Realität der Migrationsgesellschaft. Ausgerechnet Polizei und Justiz, die Sicherheitsbehörden, die gegen Kritik weitgehend immun zu sein schienen, sehen sich nun mit wachsender Kritik am institutionellen Rassismus konfrontiert. Betroffene sind nicht mehr allein, vernetzen sich, stellen vor laufenden Kameras Forderungen und finden Verbündete. Sie haben inzwischen einen Resonanzraum und finden Gehör für ihre Forderungen nach Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen und schaffen neue selbstbestimmte Formen des Gedenkens und Erinnerns, bei der sie Kraft für ihre Kämpfe finden



Verfasst am Donnerstag, 15. Mai 2025