Vor 20 Jahren verübte der NSU einen Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße. Ein Rückblick auf den Kampf der Betroffenen um Erinnerung, Aufklärung und Gerechtigkeit.
Zwanzig Jahre nach dem Nagelbombenanschlag auf die Kölner Keupstraße 2004 und zehn Jahre nach Birlikte, dem ersten Solidaritäts-Fest vor Ort, lohnt es sich, auf die bewegte Geschichte des Kampfes der Betroffenen um Erinnerung, Aufklärung und Gerechtigkeit zurückzublicken. Was seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 an Aufarbeitung geleistet und hervorgebracht wurde, füllt heute ganze Archive und ist dabei selbst zum Archiv migrantisch situierten Wissens geworden.
Und dennoch ist die Geschichte nicht auserzählt. Vielmehr droht heute wieder in Vergessenheit zu geraten, was die unermüdlichen Anstrengungen ausgehend von der Keupstraße und weit darüber hinaus ans Licht gebracht haben. Dabei gilt auch zwanzig Jahre nach dem terroristischen Anschlag, was Masliya M., Tochter des iranischen Inhabers eines Lebensmittelgeschäfts in der Probsteigasse, die bei dem ersten Sprengstoffanschlag des NSU-Netzwerks in Köln im Januar 2001 schwerstverletzt wurde, vor Jahren gesagt hatte: „Man sagt immer, dass die Zeit alle Wunden heilen kann. Aber manche Wunden sind einfach zu tief.“
In der Tat sind die Wunden, die der NSU-Komplex geschlagen hat, so tief, dass sie bis heute offen sind. Zehn Tote, zahlreiche Schwerverletzte, ein Jahrzehnt der Missachtung, Entrechtung und Erniedrigung der Opfer, ihrer Angehörigen und der migrantischen Communitys, ihr Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung mahnen uns: Der politische Abgrund, den dieser Komplex hat sichtbar werden lassen, ist immer noch so bodenlos wie unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Damals kam in dichter Abfolge ein Skandal nach dem anderen zum Vorschein über die Verwicklung von Bundesbehörden mit organisierten Nazistrukturen in diesem Land. Jeder mit der Schwere für eine Staatskrise. Es folgten mehrere Rücktritte leitender Verfassungsschützer und für eine kurze Zeit eine medial breit geführte Debatte über Sinn und Unsinn dieses Bundesamts an sich.
In den Abgrund blicken
Erinnern wir uns: Ab dem Moment der Selbstenttarnung findet eine Art Wettrennen zwischen Journalistinnen, kritischen Wissenschaftlerinnen, Betroffeneninitiativen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen einerseits und den Sicherheitsbehörden andererseits statt. Die Behörden versuchen systematisch, die Dokumente der geheimdienstlichen Bewirtschaftung der Nazinetzwerke zu vernichten oder zu schwärzen, verweigern ihren Mitarbeitenden die Aussagegenehmigung oder lügen oder schweigen vor den parlamentarischen Gremien. Ihre V-Personen, allesamt wichtige Kader in den terroristischen Täterinnen-Netzwerken, schaffen sie außer Landes. Trotz des entschiedenen Widerstands der Nebenklagevertreterinnen gelingt es im fünfjährigen Staatsschutzverfahren am OLG München gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, die Trio-These aufrechtzuerhalten und das staatlich bewirtschaftete Netzwerk, in dessen Struktur die Morde und Anschläge erst möglich wurden, aus dem Gerichtssaal und damit bis zum heutigen Tag auch aus der Aufklärung herauszuhalten und ungestraft davonkommen zu lassen.
Dieser Abgrund wird heute von den meisten Beteiligten als Staatsversagen betitelt, wobei aus der Perspektive der Sicherheitsbehörden das einzige Versagen darin zu bestehen scheint, nicht verhindert zu haben, dass Beate Zschäpe nach dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos das Bekennervideo des NSU an verschiedene zivilgesellschaftliche Adressaten verschicken konnte. Ohne dieses Videos wüssten wir bis heute nicht von der Existenz dieser Zelle und es steht zu befürchten, dass bis heute die Opfer als Täter*innen stigmatisiert worden wären, wie es zuvor zehn Jahre lang der Fall gewesen war.
NSU ist Terrorismus
Der Anschlag auf die Keupstraße spielt bei diesem Abgrund eine besondere Rolle. Denn – mit tatsächlichem Willen zur Aufklärung – hätte sich aus ihm der terroristische Charakter der sogenannten Česká-Mordserie zwingend ergeben. Die Nagelbombe explodiert am 9. Juni 2004, an einem sonnigen Nachmittag kurz vor 16 Uhr in der stark frequentierten, türkisch geprägten Laden- und Geschäftsstraße in Köln, auf der sich auch viele Schulkinder auf dem Weg nach Hause befinden. Die mit 700 Zimmermannsnägeln gefüllte Bombe hat das Potenzial und auch das Ziel, ein wahlloses Blutbad unter den Passant*innen anzurichten und möglichst viele Menschen zu töten. Mehreren glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass zwar über 20 Personen von den umherfliegenden glühenden Nägeln durchbohrt werden, aber wie durch ein Wunder niemand getötet.
Die einsetzenden Ermittlungen richten sich ausschließlich gegen die Geschädigten selbst, während Spuren ins rechte Lager nicht verfolgt werden, obwohl es anfangs durchaus presse-öffentliche Stimmen aus der Keupstraße gibt, die auf einen neonazistischen Hintergrund verweisen. Und auch der Hinweis des englischen Geheimdiensts auf parallele Nagelbombenanschläge von britischen Nazis wandert in die Schubladen der deutschen Ermittler. Vielmehr wurde ein möglicher terroristischer Hintergrund vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) bereits einen Tag nach dem Anschlag „nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen“ ausgeschlossen, „sondern auf ein kriminelles Milieu“ geschoben.
Die Nagelbombe von Köln findet nicht einmal ihren Weg in die Tatmitteldatenbank, ein Standardvorgang bei Sprengstoffanschlägen dieser Schwere. Denn dort wäre eine Ähnlichkeit der Bauweise mit der Bombe auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken 1999 aufgetaucht und mit ihr auch gelistete Namen möglicher Verdächtiger, darunter Böhnhardt und Mundlos. Denn auch das ungefähre Aussehen der Täter ist durch Aufnahmen der Überwachungskamera des Musiksenders VIVA in unmittelbarer Nähe zum Tatort nach wenigen Tagen ausgemacht. Ein Jahr später, am 9. Juni 2005, ermordet der NSU İsmail Yaşar in Nürnberg. Bei dieser Tat gibt es zahlreiche Zeuginnen, die die Täter gesehen hatten. Die von der Polizei angefertigten Phantombilder erreichen auch die Kölner Ermittlerinnen, denen die Ähnlichkeit zu den Bildern der VIVA-Überwachungskamera auffällt und die am 22. Juni einen möglichen Tatzusammenhang an die Presse melden. Einige große Tageszeitungen berichten, dass die Bombe auf der Keupstraße dieselben Täter und dasselbe Tatmotiv haben könnte wie die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar und Theodoros Boulgarides. Damit wäre genau jener terroristische Hintergrund sichtbar geworden, den der Bundesinnenminister faktisch ausgeschlossen hatte.
Polizei gegen die Opfer
Im Juni 2005 räumen die ermittelnden Behörden aus NRW also für einen kurzen Moment einen Zusammenhang zwischen der Mordserie und dem Keupstraßen-Anschlag ein. Allerdings vermeldet die sich gerade in Gründung befindende Sonderkommission „BAO Bosporus“ nur einen Tag nach der Pressemeldung aus Köln, dass „keinerlei Zusammenhang zwischen den Verbrechen in Köln und den sieben Morden an den Kleinunternehmern“ bestehe. Es dauert danach nur noch zwei Wochen, bis die Strategie der Staatsschutzbehörden aufgeht und die Presse aufhört, über den bezeugten und belegten Zusammenhang zu berichten und stattdessen den Verlautbarungen der neu gegründeten Abteilung folgt. Erst ein Jahr später im Mai 2006 – nach den nicht verhinderten Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat im April desselben Jahres – werden die Überwachungsbilder aus Köln den Zeug*innen aus Nürnberg vorgelegt. Die Zeugin Beate Keller erkennt die Täter und versichert der Polizei, dass es sich um dieselben Männer handelt, die İsmail Yaşar ermordeten. Kurz berichten einige Zeitungen, aber die Spur wird nicht mehr verfolgt.
Der Nagelbombenanschlag von Köln wird für die nächsten sechs Jahre von der SOKO Bosporus erfolgreich aus den Ermittlungen zur Mordserie herausgenommen und wir verdanken es einzig dem Bekennervideo des NSU, dass diese verwischte Spur doch noch ans Licht kam. Die Nagelbombe auf der Keupstraße wäre bis heute offiziell eine migrantische „Milieutat“ geblieben, wäre es den Behörden gelungen, die Verbindung zwischen Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat weiterhin zu verschleiern.
Mit der schnellen Reaktion der SOKO Bosporus auf den Hinweis der Kripo Köln, also gegen die bis dahin ermittelnden Behörde, ist 2005 die Existenz eines braunen Terrorismus vom Tisch – ein politisches Ziel, das insbesondere der Verfassungsschutz verfolgt, in dessen Jahresberichten während der Mord- und Anschlagsserie explizit versichert wird, dass ein organisierter Terror von rechts nicht existiere. Vom Geheimdienst platzierte „Wissenschaftler“ des Rechtsextremismus, die jahrelang unter falschen Namen als Experten auftreten, bestätigen in zahlreichen Studien und Doktorarbeiten, dass von rechts keine Gefahr ausgeht. Gleichzeitig bauen die V-Personen des Verfassungsschutzes eben genau jene Netzwerke auf und schirmen sie vor polizeilicher Ermittlung ab.
Opfer-Täter-Umkehr
Der behördliche Wille, eine rassistische und terroristische Bedrohung durch Nazinetzwerke zu leugnen, herunterzuspielen oder zu verbergen, bedeutet für die Menschen auf der Keupstraße jahrelange Stigmatisierung, Diskriminierung und ökonomische Zerstörung. Die Aussagen der Zeug*innen der Keupstraße, die Täter seien „blonde Männer“ gewesen, werden umgedeutet. Arif Sağdıç, schwer verletzt durch die Bombe, wird von den Ermittlern auf seine Äußerungen, dass es sich bei den Tätern um Rassisten handeln müsse, mit den Worten „Das wollen wir nie wieder von dir hören!“ eingeschüchtert und auf Jahre zum Schweigen gebracht.
Der Staatsschutz setzt in den folgenden Jahren mehrere verdeckte Ermittler auf der Straße ein, Telefone werden abgehört, das Finanzamt versucht von Geschäftsbetreiberinnen mit Strafandrohungen Aussagen zu erzwingen, während die Kölner Politik die Straße als kriminelles Milieu verunglimpft. Die Keupstraße erlebt in den Jahren nach dem Anschlag einen ökonomischen Niedergang. Die einst weit über Köln bekannte und beliebte Straße, die stolzer Ausdruck einer Erfolgsgeschichte der Migration aus der Türkei war, verkommt in den Augen der Öffentlichkeit zu einem zwielichtigen Ort, einem „Ghetto“, wie es der Bezirksbürgermeister von Köln-Mülheim bezeichnet. „Die Bombe nach der Bombe“, wie die Betroffenen der Keupstraße die nach dem Anschlag fortgesetzte Zerstörung ihrer Lebenswelt und -grundlage treffend nennen, scheint die zerstörerische Strategie der Neonazis fortzusetzen; statt Solidarität mit den Betroffenen zu beweisen, vertiefen Behörden, Politik und Medien die rassistische Spaltung der Gesellschaft und machen aus den Opfern systematisch Täterinnen.
Das Schweigen durchbrechen
An der Überwindung dieser rassistischen Spaltung haben die Opfer und Betroffenen und die mit ihnen solidarischen Menschen und Initiativen seit über einem Jahrzehnt gearbeitet – und dies äußerst erfolgreich. Dabei ist der Anfang schwer, denn der Raum für Solidarität war im erzwungenen Schweigen der Betroffenen scheinbar verschlossen. Die Öffnung beginnt im Fall der Keupstraße in einer unfreiwilligen Begegnung zwischen Antifas, die nach der Enttarnung des NSU noch im November 2011 eine antirassistische Demonstration durch Köln-Mülheim organisieren, und Ladenbetreiber*innen der Keupstraße, die sich fragten, wer da durch ihre Straßen marschiert. Aus der Konfrontation entsteht eine erste Kommunikation, weil auf beiden Seiten Menschen mit Neugierde über den Tellerrand ihrer jeweiligen Position blicken und in Kontakt miteinander treten. Aus dem Kennenlernen erwächst Vertrauen, schließlich Freundschaften und daraus auch eine politische Organisierung, der es gelingt, die üblichen Gruppenbezüge und politischen Identitäten zu überschreiten und einen Raum der Solidarität zu eröffnen, der in der Lage ist, Berge zu versetzen.
Einige Verletzte der Nagelbombe und manche Betreiberinnen der zerstörten Geschäfte, ein paar Nachbarinnen und Anwohnerinnen, mehrere ältere Antiras und viele jüngere Antifas und eine Reihe linke Aktivistinnen fangen ab 2013 an, sich regelmäßig zu treffen. Dem voraus geht im Frühjahr 2013 eine Film- und Veranstaltungsreihe der Gruppe Dostluk Sinemasɪ, die in mehreren Cafés, Restaurants und Teestuben auf der Keupstraße Filme von vergangenen rassistischen Taten zeigt, etwa von den Pogromen in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992, dem Brandanschlag von Mölln 1993 und anderen Anschlägen aus der traumatischen Zeit der deutsch-deutschen Vereinigung.
Überlebende von damals kommen auf die Keupstraße und erzählen ihre Geschichten des Schmerzes, aber auch ihres zwanzigjährigen Kampfes um Gerechtigkeit. In diesem Setting und mithilfe von engagierten Menschen aus der Keupstraße fassen einige Betroffene der Nagelbombe erstmalig erneut den Mut, von den Ereignissen im Juni 2004 und von den folgenden Jahren der Stigmatisierung öffentlich zu berichten. Ihre Testimonials, eingebettet in die Zeug*innenschaft von Betroffenen der 1990er Jahre, werden zur Grundlage der selbstbewussten Parole „Keupstraße ist überall“.
Vor Gericht
Die Organisierung auf der Keupstraße von 2012 bis heute ist ein Lehrstück dafür, was Solidarität bedeuten und wie sie gelingen kann. Ermöglicht wurde sie nicht über Identität und geteiltes Interesse, sondern über die Versammlung von Ungleichen – politisch, beruflich, generational, kulturell –, die sich aufmachten, aus verschiedenen Perspektiven Gerechtigkeit herzustellen. Die Initiative „Keupstraße ist überall“, die für einige Jahre diese Unterschiedlichkeit aushalten und produktiv gestalten konnte, hatte sich zunächst zum Ziel gesetzt, die vielen Nebenkläger*innen zum seit 2013 laufenden NSU-Verfahren in München zu begleiten.
Im Januar 2015 beginnt dort die Beweisaufnahme zur Keupstraße und die Nebenklägerinnen und ihre Anwältinnen versuchen mit aller Kraft, die über den direkten Anschlag hinausgehende Zerstörung ihrer Straße in den Gerichtssaal und damit an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie thematisieren das reibungslose Ineinandergreifen der unmittelbaren Gewalt der Neonazis mit den feindseligen und Zwietracht säenden Ermittlungen der Behörden, der stigmatisierenden und fremdmachenden Berichterstattung sowie der Abwendung der Politik gegenüber den eigenen Bürgerinnen. Das alles folgt derselben Logik: Migrantinnen werden als Problem betrachtet, statt als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Die Keupstraße erklärt der Öffentlichkeit, dass der Angriff und ihr Leid untrennbar mit all diesen Aspekten verknüpft sei, und sie klagt diesen Zusammenhang als „NSU-Komplex“ an, dessen gemeinsame Grundlage struktureller Rassismus sei.
Wie auch die anderen Angehörigen der Opfer des NSU, die als Nebenklägerinnen auftreten, werden die Zeuginnen der Keupstraße in vielen Medien als maßlos, geltungssüchtig und betrügerisch diffamiert, während die Bundesanwaltschaft und der Vorsitzende Richter diesen erweiterten Tatzusammenhang als irrelevant für die Frage der Schuld der vier Angeklagten abtun und versuchen, das Terrorismusverfahren als herkömmliches Strafverfahren zu führen.
Dennoch gelingt es der Nebenklage, den Betroffenen und Angehörigen und den solidarischen Initiativen während dieser Jahre vor Gericht und außerhalb des Gerichts ihre Perspektiven in die Öffentlichkeit zu tragen und zu verankern. Allein zur Keupstraße gab es zahllose Veranstaltungen, Demonstrationen wie am „Tag X“ in München, Publikationen wie „Von Mauerfall bis Nagelbombe“, Theaterstücke wie „Die Lücke“ und Filme wie „Der Kuaför auf der Keupstraße“, die der Öffentlichkeit einen umfassenden Blick auf die Gewalt gegen migrantisches Leben unter den Bedingungen strukturellen Rassismus eröffnen.
Die Versammlung der Vielen
Ein zivilgesellschaftliches Tribunal, das sich aus dem bundesweiten Zusammenschluss von Initiativen entwickelt, die ihren organisatorischen Ausgangspunkt beim ersten Birlikte Fest 2014 auf der Kölner Keupstraße hat, versammelte all diese Ansätze und Gruppen und formulierte im Mai 2017 eine eigene Anklage gegen fast 100 Personen, die in den NSU-Komplex involviert waren und sich – laut einer eigenen Anklageschrift – mitschuldig gemacht haben. Das Tribunal „NSU-Komplex auflösen!“ rekonstruiert die Tathergänge und schildert die Schicksale der Betroffenen, ihre Migrationsgeschichte, ihre Wünsche und Träume, ihre Niederlagen und Erfolge, ihren Schmerz, ihre Wut, ihre Resilienz und ihren Mut.
In dieser migrantisch-situierten Multiperspektivität gelingt es dem Tribunal, drei sich widersprechende, aber grundlegende Aspekte zur Sprache zu bringen und öffentlich zu machen: Es thematisiert den Schmerz der Betroffenen, ihre Trauer und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, in einer Wehklage. Es benennt Täter*innen und Verantwortliche in den Nazinetzwerken, den Behörden, den Medien und der Politik, versucht, den Tatzusammenhang aufzuklären und formuliert eine Anklage. Es betont die Stärke der Communitys, die sich über Jahrzehnte im Prozess der Einwanderung herausgebildet hat, und mündet in dem kraftvollen Ausdruck, dass weder Nazigewalt noch behördlicher Rassismus die vielfältige Gesellschaft homogenisieren und die Migrationsgesellschaft rückgängig machen kann.
Keupstraße ist überall
Wenn wir uns heute fragen, was von dem Kampf der Keupstraße und der bundesweiten Organisierung zum NSU-Komplex geblieben ist, können wir z.B. nach Hanau schauen. Unmittelbar nach dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar 2020, bei dem Hamza Kurtović, Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin ermordet werden, begegnen die Medien den Angehörigen und Freund*innen mit Offenheit und Respekt und schenken ihnen Gehör. Selbst Politiker wie Volker Bouffier, der damalige CDU-Ministerpräsident Hessens, kommen nicht umhin, bereits einen Tag nach dem Anschlag von Rassismus als Tatmotiv zu sprechen. Bemerkenswert, hatte er doch noch in seiner Zeit als hessischer Innenminister im Sommer 2006 dafür gesorgt, die polizeiliche Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat vom 6. April 2006 an dem Punkt abbrechen zu lassen, als mit dem ersten Tatverdächtigen, dem Verfassungsschutzbeamten des Landes Hessen, Andreas Temme, eine Vielzahl von Nazi-Bezügen in der Mordserie offenkundig geworden waren.
Die jahrelange entschlossene bundesweite solidarische Arbeit zum NSU-Komplex, die ihren Ausgang 2012 in der allmählichen Überwindung des erzwungenen Schweigens in der Keupstraße nimmt, hat die Zentralität der Betroffenenperspektive und ihres situierten Wissens und ihrer Zeuginnenschaft erkämpft und zu einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung geführt. Obwohl auch in Hanau ein Abgrund der Polizeiarbeit in der Tatnacht sichtbar wurde, wagt es niemand mehr, wie noch in den 2000er Jahren, von so etwas wie „Döner-Morden“, „Ghettos“, „kriminelle Halbwelten“, „dunklen Parallelwelten“ und ähnlichem zu fabulieren. Vielmehr rückt der Rassismus als strukturelles Problem in das Bewusstsein zumindest vieler Journalistinnen und großen Teilen der Öffentlichkeit, teilweise sogar in die Politik.
Bewegung und Institutionalisierung
Dass die Bundesregierung in ihren Koalitionsvertrag die Schaffung eines NSU-Dokumentationszentrum festgeschrieben hat, dessen Interimszentrum nun in Chemnitz entstehen soll, kann als Erfolg der migrantisch-situierten solidarischen Arbeit gewertet werden, die ihren Ausgang in den Kämpfen der Betroffenen der 1990er Jahre nahm, etwa im Kampf der Familie Arslan aus Mölln oder der Familie Genç aus Solingen. Die bundesweite Arbeit ermutigte viele andere Angehörige von Opfern aus zum Teil lange vergangenen Anschlägen ihre Stimme zu erheben und sich zu organisieren, etwa die Familie Satır, die 1984 sieben Angehörige bei einem Brandanschlag in Duisburg verlor, oder Gülistan Avcı, die Witwe des 1985 ermordeten Ramazan Avcı. Gleichzeitig ermutigte der Kampf der Keupstraße und der Familien der Opfer des NSU und ihrer Initiativen viele Menschen, sich bei neuen rassistischen Verbrechen zu wehren und direkt an die Öffentlichkeit zu gehen, wie etwa bei den jüngeren Initiativen etwa zum Tod von Amed Ahmad in Polizeigewahrsam 2018 oder bei Tatort Porz zu den Schüssen eines CDU-Politikers auf einen migrantischen Jugendlichen 2019.
Andere Initiativen gründeten sich, um längst vergangener Taten zu gedenken und auch nach Jahrzehnten ihre Aufklärung zu betreiben, etwa die Initiative 12. August zu dem rassistischen Pogrom von 1979 in Merseburg mit zwei Toten, den beiden Vertragsarbeitern Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret. Viele Jahre ignoriertes Leiden, wie das der Eltern der Opfer des OEZ-Anschlags in München 2005, erlebt seit einigen Jahren eine große Aufmerksamkeit. Das Gedenken an den versuchten antisemitischen Massenmord und rassistischen Anschlag von Halle 2019 mit zwei Toten bewegt heute viele Menschen und findet in dem jährlichen Festival of Resiliance seinen solidarischen Ausdruck.
Und wie selbstverständlich vernetzen sich seit einigen Jahren all die vielen Angehörigen, Betroffenen, Initiativen und solidarischen Menschen und tauschen sich aus, stellen Forderungen und mahnen. Dass dieser Erfolg fragil ist und eben gerade keine Selbstverständlichkeit zeigen die Beharrungskräfte in den Sicherheitsbehörden, wo es zu keiner Abkehr der Bewirtschaftung von Neonazistrukturen durch V-Personen gekommen ist, ebenso zu keiner stärkeren demokratischen Kontrolle dieser Behörden – im Gegenteil. Und auch die Gefahr faschistischer Machtzunahme in den Parlamenten und der erneuten Zunahme rechter Gewalt lassen nicht zu, in den Bemühungen im Kampf gegen Rassismus nachzulassen.
Solidarität von unten
Die Institutionalisierung des Gedenkens an den NSU durch ein zentrales Dokumentationszentrum ist sowohl Erfolg, wie auch eine Gefahr der Vereinnahmung für die weitverstreute Basisarbeit der unzähligen Initiativen im Kampf um Sichtbarkeit, Ressourcen, Aufklärung, Gerechtigkeit und Würde. Und auch das kürzlich gefeierte zehnjährige Birlikte-Fest erschien wie ein Polit- und Prominenzspektakel, dem es vor allem um die eigene Repräsentation ging, und bei dem die Stimmen der Betroffenen drohen an den Rand gedrängt zu werden. Dennoch war und ist das Fest Ausdruck und Ergebnis des zwanzigjährigen Leidens und Kämpfens der Menschen von der Keupstraße. Dieser Kampf wird heute fortgeführt unter anderem von der Initiative Herkesin Meydanı in ihrer Forderung nach einem Gedenkort auf der Keupstraße, der das Wissen der Betroffenen in einem lebendigen digitalen Archiv zugänglich machen will. Es war vor allem das Zusammenkommen der Verschiedenen und Verstreuten und ihrer geteilten Perspektiven, das eine Solidaritätsbewegung von unten hervorgebracht hat, die Unglaubliches erreichen konnte und einen Eindruck vermittelt, was Solidarität vermag.
Dr. Massimo Perinelli ist Historiker und engagiert sich seit 25 Jahren zu (post-)migrantischer Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur. Seit 2016 arbeitet er als Referent für Migration in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo er u.a. den Gesprächspodcast ManyPod betreibt. Er ist langjähriges Mitglied von Kanak Attak, Mitbegründer der Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“ und hat das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ mitinitiiert und die Tribunale in Köln 2017, Chemnitz 2019 und Nürnberg 2022 mitorganisiert. 2020 hat er gemeinsam mit Lydia Lierke den Band Erinnern stören (Verbrecher) herausgegeben. 2024 erscheint der Band Solidarität – eine reale Utopie (Verbrecher), den der zusammen mit Mia Neuhaus und Lucas Mielke herausgibt.