Kein Einzeltäter Am 22. Juli 2016 tötete ein Rassist neun Menschen bei einem Einkaufszentrum. Die Angehörigen kämpfen darum, dass die Tat als das gesehen wird, was sie war: einer der schwersten rechtsextremen Anschläge der Nachkriegszeit
Der Freitag, Ausgabe 28/2024
Julian Vogel
Sibel und Hasan Leyla sind müde. In den letzten Wochen haben sie bereits in Halle, Berlin, in Würzburg und in München gesprochen. Jetzt, wo der 22. Juli naht, häufen sich die Anfragen. Für den Jahrestag gibt es viel zu organisieren, auch die innere Anspannung steigt. Denn der 22. Juli ist kein Datum, auf das sich die Leylas freuen können. Es ist der Jahrestag der Ermordung ihres Sohnes Can durch einen Rassisten.
Ich kenne Sibel und Hasan Leyla seit Ende 2018. Damals wurde die Tat noch als „Amoklauf“ bezeichnet: Ein 18-Jähriger erschoss in und am Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen.
Ihre Namen sind: Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ.
Sein Motiv war Rassismus. Seine Tat war jedoch lange nicht in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität von rechts („PMK-rechts“) zu finden. Diskutiert wurde der Anschlag in den Medien als Amoklauf, der Täter ein „Einzeltäter“, psychisch krank.
Für seine Tat hatte er den fünften Jahrestag der rechtsextremen Anschläge von Oslo und Utøya in Norwegen vom 22. Juli 2011 gewählt, er verehrte den Attentäter, der dort 77 Menschen – darunter viele Jugendliche in einem linken Feriencamp – ermordet hatte. Kurz nach dem Anschlag von München fand die Polizei auf dem Computer des Täters ein rassistisches Schreiben, auf einer Gaming-Plattform war er Mitglied in rechtsextremen Chatgruppen. Dies sind nur einige der Indizien, die früh auf das rassistische Motiv des Täters hinwiesen und die den Ermittlungsbehörden größtenteils kurz nach der Tat vorlagen.
Bei der Tat von München handelt es sich um einen der schwersten rechtsextremen Anschläge der Nachkriegszeit. Und bis heute, bald acht Jahre nach der Tat, kämpfen Sibel und Hasan gemeinsam mit weiteren Überlebenden des Anschlags darum, dass unsere Gesellschaft die Bedeutung dieser Tatsache anerkennt.
„Wieso ist es so schwer zu sagen, dass es ein Angriff auf Ausländer war?“
Einen Teil des Kampfes von Sibel und Hasan Leyla habe ich über einen Zeitraum von vier Jahren in dem Dokumentarfilm Einzeltäter Teil 1: München begleitet. Für die Leylas war diese Zeit geprägt von dem Gefühl, von Staat und Gesellschaft alleingelassen worden zu sein. Alleingelassen mit dem Wissen, dass ihr Kind kein „Zufallsopfer“ war, dass es eben nicht jede und jeden in Deutschland hätte treffen können. Sibel fragt in unserem Film: „Wieso tun sich die Menschen so schwer, die Wahrheit zu sagen? Wieso tun sie sich schwer, zu sagen, dass es ein Angriff auf Ausländer war?“
Formal ist der Fakt, dass es sich bei der Tat vom 22. Juli um rechte Gewalt handelte, inzwischen anerkannt. Im Oktober 2019, 16 Tage nach dem Anschlag eines weiteren „Einzeltäters“ mit zwei Toten in Halle, nahm das bayerische Landeskriminalamt die Ermordeten von München überraschend doch in die Statistik „Politisch Motivierte Kriminalität – rechts“ auf. Drei Jahre und drei Monate nach der Tat. Neue Ermittlungsergebnisse wurden in diesem Zusammenhang nicht präsentiert. Bedeutender war wohl die öffentliche Debatte nach dem Anschlag von Halle, dessen erstes Ziel eine Synagoge gewesen war, und der auch von offizieller Seite umgehend als rechte Gewalt eingeordnet wurde.
Vor 40 Jahren ging eine Welle rechter Gewalt durch die BRD, die Parallelen zur Gegenwart aufweist
Die Aufnahme der Münchener Tat in die „PMK-rechts“-Statistik jedenfalls zog damals nur wenig Berichterstattung nach sich. Ich erinnere mich an eine kurze Meldung auf tagesschau.de. Eine Randnotiz in Leitmedien, die nach der Tat bereitwillig die Polizeimeldungen vom Amoklauf übernommen – und später kaum hinterfragt hatten. Selbst heute wird von Halle und Hanau gesprochen, nicht von München, Halle und Hanau.
Warum ist es so schwer, eine rassistische Tat als solche einzuordnen? Warum ist der Öffentlichkeit, warum sind den Medien, warum ist den Behörden die Erzählung eines „Einzeltäters“ so viel lieber?
Die Übertragung von einzelnen Erfahrungen auf eine ethnische Gruppe hat einen Namen: Rassismus
Offiziell wurde erklärt, der psychisch kranke Täter sei von Mitschülern gemobbt worden, die so ausgesehen hätten wie die späteren Opfer – „südländisch“. Daher sei Rache das tatleitende Motiv gewesen, nicht die rassistische Gesinnung. Doch wenn jemand aus schlechten Erfahrungen, die er mit einzelnen „südländisch aussehenden“ Menschen gemacht hat, auf eine ganze Gruppe schließt, die er nach „ethnischen“ Merkmalen konstruiert, dann hat das einen Namen: Rassismus.
Dies ändert sich auch nicht dadurch, dass der Täter selber einen iranischen Migrationshintergrund hatte, wie oft von Ermittlungsbehörden und Politik betont wurde. Rassismus ist keine erbliche Eigenschaft, sondern eine zur inneren Einstellung gewordene verbreitete Ideologie, die sich nährt aus politischen Debatten, die wir in diesem Land führen, und aus Alltagspraxen, die wir aufrechterhalten.
Daraus ergibt sich eine gesellschaftliche Mitverantwortung für Rassismus; und eine Mitverantwortung, die wir alle für Taten wie die von München, von Hanau oder Halle tragen, lässt sich vermutlich besser ausblenden, wenn wir die Gründe vor allem in der individuellen Psyche des Täters oder seinen Lebensumständen suchen. Die Erzählung vom Einzeltäter entpolitisiert und macht es möglich, das Problem von der Mehrheitsgesellschaft wegzuschieben.
Die Gaming-Plattform Steam: Digitale Neonazistrukturen
Ich begriff nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle und dem Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau, dass sich hier ein Phänomen verdichtete, das ich erstmals in München beobachtet hatte. Während der NSU in klassische „offline“-Neonazistrukturen eingebettet gewesen war, trat mit der Tat von München erstmals in Deutschland ein neuer Tätertypus auf: psychisch kranke Männer, die sich vor allem im Internet radikalisieren, sich dort mit Gleichgesinnten vernetzen und schließlich Menschen angreifen, die in den digitalen Radikalisierungsräumen als Ziele markiert wurden: Migrantinnen, Musliminnen, Jüd*innen, Frauen.
Diese Netzwerke sind nicht weniger gefährlich, nur weil sie digital sind: Der Täter von München war auf der Gaming-Plattform Steam mit anderen Tätern vernetzt, auch mit einem Attentäter, der 2017 in Aztec, New Mexico, zwei mexikanischstämmige SchülerInnen erschoss. Hätte die Tat verhindert werden können, hätte man das Netzwerk der Täter ernst genommen?
Ob beim NSU, in München, Halle oder Hanau: Hier agieren keine Einzeltäter, hier führen einzelne Menschen den Rassismus aus, der sich in der Gesellschaft bildet und in Netzwerken organisiert. Das will die Mehrheitsgesellschaft, das wollen die Behörden nicht sehen.
Die Überlebenden aber sehen es sehr genau. Ihre Geschichten müssen daher erzählt werden: Geschichten von Menschen, die es als rassifizierte Personen aus der Arbeiterklasse oft nicht leicht hatten, ihre Rechte als Bürger*innen dieses Staates einzufordern. Und die es trotzdem tun.
Wir erinnern die Namen der Ermordeten von Hanau
Diese Geschichten erzählen unsere Einzeltäter-Filme über München, Halle und Hanau. Sie waren als Filme recht erfolgreich, gewannen Preise, fanden ihr Publikum. Meine Protagonist*innen freuten sich über die Aufmerksamkeit, sprachen bei Premieren, nahmen an Filmgesprächen teil. Und dennoch: Ihre Perspektive dringt nicht durch. Noch immer ist München 2016 als rechtsterroristischer Anschlag nahezu unbekannt, nicht im kollektiven Bewusstsein angekommen. Warum?
Es ist allgemein bekannt, dass am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Wir erinnern die Namen der Ermordeten von Hanau, nicht den des Täters. Das haben wir den Familien der neun Opfer zu verdanken. Zusammen mit Unterstützer*innen haben sie dafür gekämpft, haben eine beispiellose Kampagne für Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen gestartet.
Auch die Familien in München haben gekämpft, doch ihr Kampf blieb lange unsichtbar. Das hat damit zu tun, dass die schnelle Erzählung vom Amoklauf die politische Dimension der Tat verdeckte. Die kritische Zivilgesellschaft, die in Hanau kurz nach der Tat zur Stelle war, ließ in München auf sich warten. Es waren die Omas gegen Rechts, die 2021, also fünf Jahre nach der Tat, Familien bei der Gründung der Initiative „München erinnern!“ unterstützten. Auch aus Hanau und Halle kam Unterstützung. Die Familien riefen am fünften Jahrestag in München laut und öffentlich Namen der Ermordeten aus München, und dann, nahtlos, ergänzten sie sie mit den Namen aus Hanau. In diesem Moment war die Erinnerung an die Opfer der beiden Anschläge vereint.
Am 22. Juli: Bundesweites Gedenken
Auch am 22. Juli 2024 werden sich Menschen am Olympia-Einkaufszentrum zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags zusammenfinden
Die Solidarität ist groß zwischen Überlebenden rechtsextremer Morde in Deutschland. Und ihre Vernetzung wird stärker. Bei Jahrestagen treffen sie sich: Überlebende, Angehörige und Unterstützer*innen, auch aus Duisburg, aus Mölln, aus Solingen, aus Köln, aus Hamburg, aus Dessau. Von 219 Toten durch rechte Gewalt und 16 Verdachtsfällen seit 1990 spricht die Amadeu-Antonio-Stiftung. Lediglich 113 tauchen in der offiziellen Statistik auf.
Doch hier geht es nicht nur um Statistik, nicht um Zahlen. Sibel Leyla wartet bis heute auf eine Entschuldigung des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) für die falsche Einordnung der Tat und die fehlende Ausermittlung der Netzwerke des Täters. Die Leylas fordern seinen Rücktritt.
Arbnor Segashi hat seine Schwester Armela beim Anschlag von München verloren. Sie war damals 14 Jahre alt. Wenn es nach ihm ginge, würde unser Film wöchentlich im Fernsehen laufen. „Damit die Menschen erfahren, dass es eben ein rechter Anschlag war. Aber die Realität ist eine andere: Wenn ich auf der Straße auf die Tat angesprochen werde, spricht immer noch jeder von einem Amoklauf.“ Er habe das inzwischen akzeptiert. „Ich brauche keine zwei Millionen Menschen, die wissen, dass es ein rechter Anschlag war, wichtiger wären mir zwei Millionen Menschen, die wissen, dass es meine Schwester Armela gab, und dass es Menschen gibt, die sie sehr lieben und vermissen.“
In München werden sich am 22. Juli Menschen am Olympia-Einkaufszentrum zusammenfinden, um zu erinnern. Die Initiative „München erinnern!“ hat bundesweit mobilisiert. „Unsere ermordeten Kinder“, sagt Hasan Leyla, „sind ein Teil der Geschichte Deutschlands geworden. Es soll nicht nur ein Stadtteil in München gedenken. Ganz Deutschland soll das tun!“
Julian Vogel ist Dokumentarfilmer. Seine Trilogie Einzeltäter zu den rechtsterroristischen Anschlägen von München, Halle und Hanau ist in der Mediathek des ZDF zu sehen. Die Initiative „München erinnern!“ lädt am 20.7.2024 um 17 Uhr zu der Gedenkveranstaltung „We will shine for these nine“ mit Lesung, Podium und Konzert ein und am 22.7. ab 17 Uhr zum Gedenken am Olympia-Einkaufszentrum