NSU Komplex

Demonstration in München 2018 – kubia, CC BY-NC 2.0

Am 23. Juni 1999 zündete das Nazi-Terror-Netzwerk NSU eine mit Sprengstoff gefüllte Taschenlampe in der Kneipe „Sonnenschein“ in der migrantisch geprägten Nürnberger Südstadt. Der 18-jährige Wirt überlebte, weil die Bombe fehlerhaft konstruiert war. Dass die Bombe am Tag nach der Neueröffnung der Kneipe explodierte, lässt auf lokale Unterstützer des NSU-Netzwerks schließen. Auf den Mord an dem Blumenhändler Enver Şimşek am 9. September 2000 und den Arbeiter Abdurrahim Özüdoğru am 13. Juni 2001 ebenfalls in Nürnberg folgten zwei weitere Sprengstoffanschläge in Köln, auf ein Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse 2001 und die Keupstraße 2004. Die Tochter der Familie in der Probsteigasse überlebte schwerverletzt und beim Nagelbombenanschlag gab es zahlreiche Schwerverletzte. Der NSU ermordete bis 2007 zehn Menschen – acht Männer mit türkischen und einen Mann mit griechischen Wurzeln sowie eine Polizistin: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.

Bis auf die Polizistin waren die Opfer des NSU allesamt selbständige Kleinunternehmer mit migrantischer Familiengeschichte. Trotzdem war der Blick der Öffentlichkeit verstellt. Obwohl es einzelne Stimmen gab, die, etwa im Falle der Kölner Keupstraße, den richtigen Schluss zogen, wonach „viele Indizien (...) in die Richtung eines fremdenfeindlichen Motivs weisen“, gab es keine Solidarität mit den angegriffenen Menschen. Das war fatal. Hasan Yıldırım, der Kuaför auf der Keupstraße, hatte Blickkontakt mit dem Täter, als dieser das Fahrrad vor seinem Laden abstellte, und beschrieb ihn gegenüber dem Kölner Express als blonden Deutschen. Auch andere Ladenbesitzerinnen der Keupstraße sprachen davon, dass es sich nur um einen rassistischen Anschlag gehandelt haben könne. Auch die Angehörigen der Mordopfer erkannten das rassistische Muster der Mordserie und prangerten das öffentlich an. So organisierten die Familien Yozgat, Şimşek und Kubaşık nur wenige Wochen nach den Morden an Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 und Halit Yozgat am 6. April 2006 zwei Demonstrationen in Kassel und Dortmund. Mehrere Tausend Menschen aus der türkisch-kurdischen Community folgten dem Aufruf der Angehörigen und appellierten an die Behörden, das Morden zu beenden und die Täterinnen endlich festzunehmen. In der Öffentlichkeit wurde dieser nicht zu übersehende Protest nicht wahrgenommen, auch nicht von antifaschistischen und antirassistischen Initiativen und so gelang es nicht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Dies war ein verhängnisvolles Unvermögen.

Dabei war seit Ende der 1990er Jahre durch Antifa-Recherchen und kritische Journalistinnen bekannt, dass in der Nazi-Szene Strategien des „terroristischen Untergrundkampfs“ propagiert wurden. So auch in der Nazi-Kameradschaft Jena des so genannten Thüringer Heimatschutzes (THS), der mit Hilfe von V-Leuten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS) gegründet wurde. Nachdem im Januar 1998 eine Bombenwerkstatt der Gruppe aufgeflogen war, entzogen sich drei Mitglieder dem polizeilichen Zugriff und tauchten in Wohnungen des Blood & Honour-Netzwerkes in Sachsen unter, das sich mit Nazi-Rock-Vertrieb finanzierte. Der VS verharmloste diese alarmierenden Berichte über einen „rechtsextremen Terrorismus“. In Geheimdienst-Dossiers hieß es lapidar, die Szene sei zu dumm, zu unpolitisch und zum organisierten Handeln nicht fähig. Verantwortlich dafür warenausgerechnet jene Beamtinnen des VS, die gleichzeitig die Strukturen, aus denen der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hervorging, intensiv betreuten.

Als im Mai 2006 leitende Ermittler erstmals davon ausgingen, dass der oder die Täterinnen „Türken-hasser“ sein müssten, gab es in der zuständigen Soko „Bosporus“ einen regelrechten Aufschrei, in dessen Folge sich die Polizeiführung von jeglicher Logik professioneller Verbrechensermittlung verabschiedete. In einer daraufhin vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg erstellten Operativen Fallanalyse wurde von einer „archaischen Norm- und Wertestruktur“ orakelt, die der deutschen Kultur fremd sei und die Täterinnen angeblich „im ost- oder südosteuropäischen Raum“ zu verorten seien. Es durfte nicht sein, was nicht sein darf. Stattdessen wurde ausschließlich gegen die Opfer und ihre Familien ermittelt. Die Polizei durchleuchtete die Communitys, säte Misstrauen und Verunsicherung. Die Presse flankierte und fabulierte von düsteren Orten, undurchdringlich, gefährlich, fremd. Politiker*innen fabulierten über „Parallelgesellschaften“ und die „Integrationsunwilligkeit“ dieser Menschen. So nahm die Zerstörung ihren Lauf und der NSU-Komplex Gestalt an. Aufgrund der jahrelangen Stigmatisierung als vermeintliche Täter verstummten die Betroffenen schließlich und schwiegen fortan. (aus: Tribunale – »NSU-Komplex auflösen«, Verlag Assoziation A, 2021, 16,00 Euro)

Aktionsbündnis ›NSU-Komplex auflösen‹ (Hg.)
Tribunale – »NSU-Komplex auflösen«

Verlag Assoziation A
ISBN 978-3-86241-486-4
erschienen 07/2021
304  Seiten
Paperback