ERINNERN HEISST KÄMPFEN - Rede der Initiative Herkesin Meydani – Platz für Alle zum 20. Jahrestag des rassistischen Anschlags auf der Keupstrasse, Juni 2024

Seit zwanzig Jahren kämpfen die Menschen hier auf der Straße gemeinsam mit anderen Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt für Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen.

Obwohl die damalige Kanzlerin lückenlose Aufklärung versprach, ist der NSU-Komplex bis heute nicht gänzlich aufgeklärt. Das betrifft vor allem das weitverzweigte Netzwerk der Naziterroristen. So ist bis heute unklar, wer den Bombenanschlag 2001 in der Kölner Probsteigasse verübt hat. Dabei hatten Kriminalpolizisten nach den Angaben der Tochter der deutsch-iranischen Familie ein Phantombild des mutmaßlichen Täters angefertigt, das verblüffende Ähnlichkeiten mit einem polizeibekannten Kölner Neonazi aufwies. Statt diesem Beweismittel zu vertrauen und den Verdächtigen festzusetzen, geriet die betroffene Familie ins Visier der Fahnder. Der verdächtige Nazi wurde von einer Kölner Kanzlei vertreten, die außer gewalttätigen Nazis auch die AFD vertritt. Der Chef der Kanzlei, Ralf Höcker, gründete die Werteunion. Er war es auch, der dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans Georg Maaßen, einen neuen Job verschaffte, nachdem der für die damalige Kanzlerin nicht mehr tragbar war. Maaßen hatte die Hetzjagd auf Geflüchtete 2018 in Chemnitz geleugnet.

Auch nach dem Anschlag in der Keupstraße 2004 ermittelte die Polizei jahrelang gegen die Betroffenen und deren Umfeld. Obwohl das Tatmittel - ein mit Nägeln gefüllte Sprengsatz - und der Tatort - eine belebte Geschäftsstraße – für einen Terrorakt sprachen, schlossen Bundesinnenminister Otto Schily und der Innenminister des Landes NRW, Fritz Behrens, ein rechtsterroristisches Motiv bereits Stunden nach der Tat kategorisch aus. Für die ermittelnden Beamten und verantwortlichen Politiker hat dies bis heute keinerlei Konsequenzen. Im Gegenteil, die Forderungen nach Abschaffung des Verfassungsschutzes, der wegen der offensichtlichen Verstrickungen in den NSU-KOMPLEX in der Kritik stand, wurde ausgesessen und die Beamten machten Karriere. Ein Kölner Verfassungsschützer, der 2011 alle Akten mit Bezug zum NSU vernichtete, ist immer noch im Staatsdienst. Parlamentarische Untersuchungsausschuss klagten später auf Herausgabe vorenthaltener und geschwärzter Akten. Verfassungsschützer und Polizisten reklamierten im Zeugenstand Erinnerungslücken. Das hessische Innenministerium erklärte einen internen Prüfbericht, der nach dem Auffliegen des NSU 2011 erstellt wurde, kurzerhand für 120 Jahre zur geheimen Verschlusssache. Dabei ging es unter anderem um den Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel, bei dem der Verfassungsschützer Andreas Temme am Tatort war und dessen Rolle bis heute unklar ist.

Polizei und Justiz haben ein Rassismus-Problem! Rassifizierte Personen gelten per se als verdächtig, werden öfter Opfer von Polizeigewalt und sterben öfter durch Polizeikugeln. Rassismus nicht wahrzunehmen, kleinzureden, zu leugnen und die Betroffenen im Stich zu lassen sind bis heute wesentliche Kennzeichen des institutionellen Rassismus, genauso wie das perfide Narrativ der Opfer-Täter-Umkehr. Die Betroffenen aus der Keupstrasse bezeichneten die stigmatisierenden Ermittlungen im NSU-Komplex als "Bombe nach der Bombe".

Die Familien Simsek, Yozagt und Kubasik, deren Angehörige vom NSU ermordet wurden, haben bereits 2006 in Kassel und Dortmund mit Tausenden aus der türkisch-kurdischen Community für Aufklärung, Gerechtigkeit und „Kein 10. Opfer“ protestiert. Wir waren damals nicht in der Lage, ihren Protest wahrzunehmen, ihre Deutungen aufzugreifen und die rassistischen Ermittlungen und die Hetze in den Medien zu kritisieren. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 haben Kölner Initiativen Kontakt mit Menschen auf der Keupstraße aufgenommen.

Am Anfang stand die Filmreihe „Dostluk Sinemasi - Kino der Freundschaft“ in verschiedenen Cafés und Restaurants der Straße 2013. Betroffene sprachen dort erstmals öffentlich über ihre Erfahrungen mit der Nagelbombe und die Kriminalisierung. 2014 wurde die Initiative „Keupstraße ist überall“ gegründet. Zunächst ging es darum, die Betroffenen im Hinblick auf den NSU-Prozess in München bestmöglich zu unterstützen. Im Januar 2015 fand unter großer Beteiligung von Betroffenen eine Kundgebung vor dem Oberlandesgericht München statt, der so genannteTag X. Durch die erfahrene Solidarität fanden viele Betroffene die Kraft, ihre Perspektiven als Zeuginnen vor Gericht einzubringen und Forderungen zu stellen. So wurde die Grundlage für eine langfristige solidarische und vertrauensvolle Zusammenarbeit geschaffen.

Im Mai 2017 folgte das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ im Schauspiel Köln. Das Tribunal hatte Signalwirkung. Erstmals wurde ein öffentliches Forum geschaffen, bei dem die Erfahrungen und Perspektiven der Betroffene rassistischer Gewalt im Zentrum standen. Außerdem wurden die Verantwortlichen des NSU-Komplexes angeklagt und die Forderungen gemeinsam auf die Straße getragen.

Bereits 2014 hatte der Rat der Stadt Köln den Beschluss gefasst, in der Nähe des Tatorts an der Keupstraße ein Mahnmal zu errichten und unter Beteiligung von Betroffenen eine Findungskommission eingesetzt. Die Jury einigte sich einvernehmlich auf den Entwurf des Künstlers Ulf Aminde. An der Ecke Keupstraße/Schanzenstraße soll ein kleiner öffentlicher Platz, ein Ort der Begegnung und des Gedenkens entstehen. Besucherinnen können dort mit Hilfe einer Reality App ein digitales Archiv abrufen, das an die Anschläge des NSU und die Kämpfe gegen Rassismus erinnert. Entlang der Fundamente der Betonplatte, die auf dem Platz gebaut wird, werden virtuelle Wände sichtbar, auf denen Texte, Bilder und Videos zu sehen sein werden. Doch die Eigentümerinnen des Geländes wollten davon zunächst nichts wissen.Erinnerung muss erkämpft werden. Sechs Jahre haben wir uns gemeinsam mit Betroffenen und der IG Keupstraße sowie zahlreichen anderen Kölnerinnen und Kölnern dafür engagiert, dass das Mahnmal am gewünschten Ort entstehen kann. 2021 hat der Rat der Stadt Köln 2021 schließlich beschlossen, in Verhandlungen mit den Eigentümerinnen zu treten und Mittel für die Realisierung des digitalen Filmarchivs bereitzustellen. Mit dem Mahnmal wird im Stadtraum dauerhaft ein Ort geschaffen, der der jahrzehntelangen Stigmatisierung der Menschen auf der Keupstraße ein sichtbares Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus entgegensetzt. Schließlich hatten die Naziterroristen gezielt an Orten angegriffen, wo Menschen leben und arbeiten oder sich treffen, die als die Anderen wahrgenommen und stigmatisiert werden.

Dieses Muster rechten Terrors setzte sich von Köln über München 2016, Halle 2019 bis nach Hanau 2020 fort. Die Opferberatungsstellen haben für 2023 gerade eine erschreckende Studie über rechte Gewalt vorgelegt. Die Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus führt demnach zu einer dramatischen Ausweitung von Gefahrenzonen und zu einem Klima der Angst und Unsicherheit für Betroffene. Im vergangenen Jahr ereigneten sich bis zu sieben Angriffe täglich, Rassismus sei in den meisten Fällen das leitende Tatmotiv und mehr als 3300 Menschen direkt davon betroffen. Die Opferberatungsstellen registrierten zudem einen alarmierenden Anstieg antisemitischer Angriffe, um mehr als ein Drittel. Auch in Köln hat es in den letzten Monaten zahlreiche rassistische Angriffe gegeben. Im Oktober griff ein Rassist mitten auf der Kalker Hauptstraße wahllos mehrere Menschen an und verletzte einige erheblich. Im März schlug derselbe Täter im Café Wahlen in der Kölner City jemandem unvermittelt mit der Faust ins Gesicht, die er als einzige schwarze Person in einer größeren Gruppe ausmachte. Die zu Hilfe gerufene Polizei erteilte dem Täter, der das Geschehen anschließend aus nächster Nähe und in aller Ruhe beobachtete, lediglich einen Platzverweis und ließ ihn laufen.

Was uns trotzdem Mut macht, ist das wachsende Selbstbewusstsein von Betroffenen rassistischer und antisemitischer Gewalt. Betroffene und Initiativen haben sich bundesweit zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu stärken, voneinander zu lernen und gemeinsam Forderungen zu stellen. Erste Impulse bekam diese Vernetzung durch die Proteste anlässlich des NSU-Prozesses in München, das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ und nicht zuletzt durch die „Möllner Rede im Exil“ der Familie Arslan aus Mölln. Seit Jahren laden sich Betroffene rassistischer und antisemitischer Gewalt gegenseitig ein, an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, zu sprechen und ihre Erfahrungen zu teilen. Nach dem Anschlag von Hanau 2021, bei dem neun Menschen ermordet wurden, entstand der Wunsch, sich noch besser zu organisieren, sich regelmäßig auszutauschen, zu stärken und gemeinsame Forderungen zu stellen. Die Betroffenen sind die Hauptzeugen des Geschehens, um es mit den Worten von Ibrahim Arslan zu sagen. Sie leiden bis heute unter den traumatischen Erfahrungen der Gewalttaten. Trotzdem müssen sie darum selber kämpfen, wahrgenommen und entschädigt zu werden. Statt ihnen jede Hilfe und Unterstützung schnell und unbürokratisch zu ermöglichen, müssen sich die meisten jahrelang mit Behörden herumschlagen, die ihre berechtigten Ansprüche auf Entschädigung vielfach ablehnen. Das ist ein Skandal!

Wir freuen uns sehr, dass heute zahlreiche Betroffene rassistischer und antisemitischer Gewalt und Initiativen hier sind. Unterstützen wir ihren Kampf für Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen und Entschädigung!

 Seit solidarisch und lasst uns gemeinsam gegen Rassismus und Antisemitismus aufstehen und den Nazis überall entgegentreten.



Verfasst am Dienstag, 11. Juni 2024