Herkesin Meydanı — Platz für alle
Wir, die Initiative „Herkesin Meydanı — Platz für alle" haben uns 2019 zusammengefunden, um uns aktiv für die Errichtung des Mahnmals an der Keupstraße einzusetzen. Dabei können wir auf eine langjährige gemeinsame Geschichte zurückschauen. Sie begann mit der so genannten Selbstenttarnung des NSU 2011. Seitdem war klar, was die Betroffenen auf der Keupstraße und die Angehörigen und Überlebenden der NSU-Mordserie von Anfang an gesagt haben, die Täter waren Nazis und das Motiv Rassismus. Die Betroffenen des NSU-Terrors wurden mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer jahrelang allein gelassen. Nicht einmal antirassistische Gruppen hatten es geschafft, ihre Deutung aufzugreifen und die rassistischen Ermittlungen der Polizei und die mediale Hetze zu kritisieren und das, obwohl die Familien Simsek, Yozgat und Kubasik bereits 2006 in Kassel und Dortmund gemeinsam mit Tausenden aus der türkisch-kurdischen Community auf die Straßen gegangen waren und Aufklärung und „Kein 10. Opfer“ gefordert hatten.
Um dieses Schweigen zu durchbrechen und in einen Dialog mit Betroffenen zu treten und Vertrauen aufzubauen, organsierte die Initiative “Dostuk Sineması“ 2013 eine antirassistische Film- und Veranstaltungsreihe in verschiedenen Lokalen, Teestuben und Restaurants auf der Keupstraße. Dabei berichteten Betroffene erstmals öffentlich, wie sie den Nagelbombenanschlag 2004 und die anschließende Kriminalisierung und Stigmatisierung erlebt hatten und wie der Angriff der Naziterrorist*innen seine ganze Zerstörungsgewalt erst durch die „zweite Bombe“, die Polizeiermittlungen und die mediale Hetze, entfalten konnte. 2014 gründeten einige von ihnen gemeinsam mit solidarischen Menschen die Initiative „Keupstraße ist überall“, um sich gemeinsam auf den bevorstehenden NSU-Prozess in München vorzubereiten und dort gemeinsam aufzutreten. Der Tag X im Januar 2015 hatte unter großer Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen stattgefunden. Sie konnten durch die erfahrene Solidarität die Kraft finden, ihre Perspektive in den Prozess einzubringen und offensiver aufzutreten. Diese wichtige Erfahrung hat die Grundlage für eine langfristige solidarische Zusammenarbeit geschaffen.
Einige aus der Initiative „Keupstraße ist überall“ haben gemeinsam mit Betroffenen des NSU-Terrors, Einzelpersonen und Initiativen aus ganz Deutschland, die sich kritisch mit Rassismus auseinandersetzen, das „Tribunal NSU-Komplex auflösen" initiiert, das im Mai 2017 unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit im Schauspiel Köln stattfand. Dabei stand das Wissen der Betroffenen im Mittelpunkt. Sie haben den geschützten Rahmen des Tribunals genutzt, um ihre Geschichten zu erzählen, ihre Analysen zu formulieren, ihre Forderungen zu stellen und ihren Wünschen, ihrer Wut, ihrer Trauer und ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen und die Verantwortlichen im NSU-Komplex anzuklagen. Das Ziel war, die rassistische Spaltung wenigstens ein Stück weit zu überwinden, um bei künftigen Angriffen, Anschlägen und Diffamierungen ihre Perspektive zentral zu stellen, das Muster des strukturellen Rassismus erkennen, ihre Rechte zu verteidigen und damit die Gesellschaft der Vielen zu stärken. Die Betroffenen werden nicht mehr schweigen. Sie fordern Respekt für ihre Geschichten und Solidarität. Ihre Forderungen sind auch unsere und bleiben: Entwaffnet die Neonazis! Löst den Verfassungsschutz auf! Klagt alle Verantwortlichen an! Entschädigt alle Betroffenen! Nennt die Holländische Strasse in Kassel, wo Halit Yozgat ermordet wurde, in Halitstraße um! Baut das Mahnmal in der Keupstrasse!
So haben wir uns nach dem Tribunal in Köln 2017 dafür engagiert, das antirassistische Mahnmal zu realisieren. Tatsächlich hat unsere Initiative „Herkesin Meydanı“ entscheidend dazu beigetragen, dass in unmittelbarer Nähe des Ortes, wo 2004 die Nagelbombe detonierte dauerhaft an die Verbrechen des NSU und die Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus erinnert werden soll und ein Ort der Begegnung, ein Platz für alle, geschaffen wird. Wann es so weit ist, wissen wir nicht. Deshalb haben wir im April 2023 an der Ecke Keupstraße/Genovevastraße den „Raum für alle" eröffnet. Ein Ort für Begegnung, Erinnerung, Kunst und Kultur, an dem Menschen aus der Straße, dem Viertel und der Stadt zusammenkommen können. Neben der Arbeit für den Gedenkort in Köln vernetzten wir uns bundesweit gemeinsam mit anderen Betroffenen, Angehörigen und Hinterbliebenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und solidarischen Initiativen.